Handlung

Marianne (Nicola Kirsch) ist Physikerin, Roland (Thiemo Strutzenberger) Imker. Sie lernen sich bei einer Grillparty kennen, verlieben sich eventuell. Die beiden durchleben eventuell diverse Beziehungsdramen wie Fremdgehen, Trennung, Wiederaufeinandertreffen, Zweiter Versuch. Sie heiraten eventuell. Bei Marianne wird eventuell eine schwere Krankheit diagnostiziert, ihr bleibt eventuell nur noch wenig Lebenszeit. Sie entschließt sich eventuell, ins Ausland zu fahren und Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen.

Eventuell – denn diese Punkte im Leben von Marianne und Roland passieren mehrmals und zwar in unterschiedlichen Versionen. Nick Payne, ein britischer Autor, verweist mit seinem Stück auf eine Theorie aus dem Bereich der Quantenphysik, nach der wir nicht in einem Universum, sondern einem Multiversum leben.

Im Quanten-Multiversum existiert jede Wahl, jede Entscheidung, die du getroffen hast oder auch nicht, in einem unvorstellbar riesigen Ensemble von Paralleluniversen.

Kritik

Ich gestehe, ich kenne mich mit Physik gar nicht aus und um die physikalische Grundlage der Idee des Stücks zu erklären, fehlen mir einfach die elementaren Kenntnisse. Allerdings habe ich das Ganze so verstanden, dass es um Möglichkeiten geht. Möglichkeiten, die jeder Mensch hat, der ständig Entscheidungen treffen muss. Manche sind trivial, ob Marianne und Ronald sich beim ersten Treffen küssen oder nicht; andere wiederum für den weiteren Verlauf von großer Bedeutung, ob Marianne Rolands Heiratsantrag annimmt oder nicht. Die Theorie vom Multiversum jedenfalls sagt, dass alles Mögliche in Paralleluniversen passiert und wir jeweils nur eine von Millionen Möglichkeiten – oder eben Konstellationen – leben. Nick Payne setzt diese Vorstellung um, indem er einfach einige verschiedene Möglichkeiten aneinanderreiht. Die Szenen unterscheiden sich manchmal nur geringfügig, im Tonfall, in der nonverbalen Kommunikation, manchmal in einem Satz nur, der dann aber den Unterschied ausmacht. Man erlebt zum Beispiel 4 erste Dates  und 5 Heiratsanträge – alle im selben Wortlaut, aber mal mit Unsicherheit, mal mit überschwänglicher Liebe und Zuversicht, mal mit Angst vorgetragen, mal nimmt Marianne sofort den Antrag freudig an, mal zögert sie, mal ist sie eiskalt.

Honigbienen haben ein beständiges Ziel. Ihr Leben ist oftmals extrem kurz. Aber auf merkwürdige Weise bin ich neidisch auf die bescheidene Honigbiene und ihre ruhige Eleganz. Wenn unser Leben nur so einfach wäre.

Der Szenenwechsel wird untermalt mit drastischem Beleuchtungswechsel. Als ob das nötig wäre, schließlich weiß man, dass eine neue Szene, eine Variation, eine andere Parallelwelt präsentiert wird, wenn die Bewegung einfriert und Roland zum 3. Mal mit den selben Worten beginnt. Es gibt keine fließenden Übergänge, nur Wiederholungen und doch ein Voranschreiten der Handlung.

Zu den Darstellern? Marianne war etwas anstrengend, Roland auf so charmante und Weise banal und verpeilt, dass er authentisch, süß und sehr cool wirkte.

Ich kann nicht wirklich sagen, wieso, aber ich fand es sehr interessant. Die Darstellung selbst ist eigentlich absolut simpel, es gibt kein Bühnenbild, keine Requisiten, man schaut einfach zwei Menschen zu, die verschiedene Szenen hintereinander spielen, von denen jeweils bis zu fünf aufeinanderfolgende Episoden sehr ähnlich sind. Einige Male konnte einem das schon auf die Nerven gehen, das Gleiche noch einmal zu hören, aber um das Stück wirklich zu mögen und bereichert aus dem Abend herauszugehen, darf man nicht die Einzelheiten bewerten, sondern das gesamte Konstrukt wirken lassen. Und dann ist es richtig gut. Was für eine phantastische Idee, so einfach und trotzdem wirksam umgesetzt! Im Detail war es immer mal wieder romantisch, auch mal lustig, irgendwie auch süß und sympathisch, etwas originell, vor allem aber halte ich das gesamte Stück im Zusammenhang mit den Gedanken, die der Zuschauer weiterspinnt, überaus intelligent!

Unsicherheit ist eine entscheidende Komponente der Quantentheorie. Indem sie den Determinismus hinter sich ließ und sich stattdessen auf die Wahrscheinlichkeit konzentrierte, stellte die Quantentheorie die mutige Behauptung auf, dass bestimmte Aspekte der Natur einfach vom Zufall regiert werden. (…) Im Quantenmultiversum ist der Zufall unsere Rettung und unsere Achillesferse, wir sind zugleich wahnsinnig autonom und äußerst machtlos. (Nick Payne)

Die Gespräche der anderen Zuschauer (leider nur sehr wenige) danach verliefen ganz ähnlich wie meine Gedankengänge: Was wäre, wenn es wirklich so wäre? Wie verliefe das Leben womöglich in einem anderen Universum? Wie sähe meine Version aus, wenn andere Entscheidungen getroffen sind? Wie unendlich viele Paralleluniversen würden das sein? Und in wie wenigen davon würde ich existieren? Müsste ich in diesem Universum, in diesem Bewusstsein versuchen, das Beste aus meinen Möglichkeiten herauszubekommen und wie frustrierend kann das sein, wenn man wissen müsste, dass es einem parallelen Selbst besser gelingt und man selbst mit seinem Leben nur eine von tausenden von verschiedenen Möglichkeiten lebt?

Und hatte es eine tiefere Bedeutung, dass Marianne am Ende zwar nur eventuell Sterbehilfe in Anspruch nehmen will, aber auf jeden Fall sterben wird? Denn obwohl nichts sicher ist und wir aus etlichen Möglichkeiten immer wieder wählen und entscheiden müssen/dürfen/sollen, um das Sterben am Ende kommt man nicht herum. Oder wäre das in einem Paralleluniversum anders?

Aber das gibt dem Abend noch einen bitteren, trüben Nachgeschmack, der jegliche eventuelle (!) Leichtigkeit wegbläst.

Wir haben alle Zeit, die wir jemals hatten.
Du wirst immer noch all unsere Zeit haben.
Wenn ich
Wenn
Wenn
Es wird weder mehr noch weniger davon geben.
Wenn ich weg bin.

Das Thema des Sterbens – des freiwilligen Sterbens und der Entscheidungsfreiheit diesbezüglich schien dem Autor am Herzen zu liegen. Und in der Tat – kurz bevor Nick Payne Konstellationen schrieb, starb sein Vater. Laut Interview im Programmheft war es die Theorie vom Multiversum, die ihn getröstet und zum Glauben verführt (genau dieses Wort steht im Interview) hat, dass sein Vater in einem Paralleluniversum weiterlebt.

Also auch wer wie ich nichts von Physik versteht, hat Freude an Nick Paynes Multiversum im Theater. Vor allem deshalb, weil das Stück vielen wirklich interessanten Gedankengängen einen Anstoß gibt, sodass das Theater im Kopf weitergeht und Kreativität freisetzt. Ich habe natürlich auch schon eine photographische Idee zu dem Thema im Kopf…. Und Multiversum ist mein Wort des Monats!

Unter dem Einfluss bestimmter Gesetze werden wir einfach nur durch die verschissene Gegend geschleudert.

Randnotiz

Buchempfehlung, in der Parallelwelten eine ganz große Rolle spielen: Die Trilogie His Dark Materials von Philip Pullman.

Photo © Alexi Pelekanos